VIV-Interview mit Herrn Christian Lindner MdL, Bundesvorsitzender der FDP und Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion NRW

Deutschland in der größten Krise seit Jahren. Und von der FDP hört man in der Öffentlichkeit nichts. Wie kommt das?
In Krisensituationen richtet sich der Blick der Öffentlichkeit auf die Regierung – das ist ganz natürlich. Die große Koalition hat jedoch keinen Kompass in der Flüchtlingspolitik. Stattdessen streiten die Unionsparteien intern über den Kurs, die CSU demütigt die Kanzlerin öffentlich. Und zwischen Union und SPD geht es nicht um die besten Lösungen, sondern um Begrifflichkeiten.

Dabei fehlen kluge Konzepte, wie die Zahl der Flüchtlinge deutlich reduziert werden kann, damit Deutschland seiner humanitären Verantwortung nachkommen und Aufnahme- und Integrationsmöglichkeiten dauerhaft gewährleisten kann. Denn in der Praxis stoßen zahlreiche Kommunen bereits an ihre Belastungsgrenzen ebenso wie hauptamtliche und ehrenamtlichen Helfer, deren enormes Engagement beeindruckend ist. Grüne und Linke sind als ernsthafte Opposition nicht wahrnehmbar. Die Stimme der Freien Demokraten im Bundestag fehlt. Eine starke liberale Stimme der wirtschaftlichen Vernunft, die sich für eine offene tolerante Gesellschaft und die Zukunftsfähigkeit unseres Landes gleichermaßen einsetzt. Deshalb ist es mein Ziel, die FDP 2017 wieder in den Bundestag zu führen.

Die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin spaltet das Land. Wie ist die Position der FDP?
Die Bundeskanzlerin hat mit ihrem Zick-Zack-Kurs in der Flüchtlingspolitik Chaos gestiftet und durch gewisse Fehlentscheidungen eine Sogwirkung in Richtung Deutschland ausgelöst. Deshalb erleben wir einen chaotischen Massenzustrom, über den die Regierung die Kontrolle verloren hat. Deutschland ist solidarisch und wir brauchen Zuwanderung – aber mit klaren Regeln und einer Strategie. Stattdessen begeht die Bundesregierung den nächsten kapitalen Fehler, indem sie zur Einzelfall-Prüfung für syrische Flüchtlinge zurückkehren will. Die FDP hat ein konkretes Konzept vorgelegt, um angesichts der großen Zahl von Kriegsflüchtlingen wieder zu geordneten rechtsstaatlichen Verfahren zu kommen: vorübergehender humanitärer Schutz statt Asyl. Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak könnten dadurch einen sofortigen gesicherten Aufenthaltsstatus erhalten, sofortigen Zugang zu Integrationskursen und die sofortige Arbeitserlaubnis ohne Vorrangprüfung. Der Familiennachzug wird jedoch durch Befristung eingeschränkt. Flankiert werden muss der humanitäre Schutz mit einem liberalen Einwanderungsgesetz, das nach Kriegsende eine Bleibeperspektive für diejenigen ermöglicht, die gut in Gesellschaft und Arbeitsmarkt integriert sind.

Kann Deutschland von Europa in der Flüchtlingsfrage Solidarität erwarten, wenn die anderen Staaten die deutsche Politik für fundamental falsch halten?
Bundeskanzlerin Merkel hat die Verhandlungsposition Deutschlands durch ihr impulsives Handeln nicht gestärkt. Sie muss jetzt ein klares Signal setzen, dass auch unsere Kapazitäten begrenzt sind. Wir brauchen einheitliche europäische Regeln. Denn die Flüchtlingskrise lässt sich nicht von einer Handvoll Staaten im Alleingang lösen. Die Bundesregierung muss europäische Solidarität mit festen Verteilquoten einfordern. Zudem muss Europa seine Außengrenzen sichern. Europa hat eine gemeinsame Verantwortung, davor darf sich kein Mitglied der EU drücken.

Was muss sich bei der Integration von Flüchtlingen ändern, wenn die Integration erfolgreicher als in der Vergangenheit verlaufen soll?
Integration bedeutet nicht nur das Erlernen der deutschen Sprache. Sie fordert Respekt und Achtung vor unseren Verfassungswerten. Nicht das liberale Deutschland muss sich verändern, sondern manche Zuwanderer werden sich ändern müssen. Die gelebte Liberalität macht unser Land aus. Würde und freie Entfaltung des Einzelnen sind geschützt, die Freiheit und Unabhängigkeit der Presse, das freie Wort und das Recht auf eine eigene Meinung, die Geschlechter haben die gleichen Rechte, homosexuelle Paare können zusammenleben und händchenhaltend durch die Straßen laufen. All das ergibt sich aus dem Grundgesetz. Es ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Deshalb müssen wir Flüchtlingen bereits in den Erstaufnahmen mit dem Grundgesetz vertraut machen. Ebenso müssen wir schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen einen Qualifikationscheck durchführen, damit den Menschen eine Integration in Bildung und Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Plätze in verpflichtenden und kostenlosen Sprachkursen müssen in den Kommunen zur Verfügung stehen, sobald Flüchtlinge dort untergebracht werden. Und die Fehler der 90er Jahre dürfen nicht wiederholt werden, als hervorragend integrierte Menschen nach Ende des Balkankriegs Deutschland verlassen mussten. Auch deshalb brauchen wir ein modernes Einwanderungsgesetz.

Was sind die zentralen Botschaften der FDP in der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik?
Wir setzen auf Bildung, wirtschaftliche Vernunft und Freiheitsrechte in einer offenen und toleranten Gesellschaft. Bildung, weil sie den Einzelnen in die Lage versetzt, sein Leben selbstbestimmt zu führen – damit ist Bildung die beste Sozialpolitik. Gerade in diesem Bereich muss auch der Bund mehr Verantwortung übernehmen und durch ausreichende Finanzierung für höhere Qualität an deutschen Schulen sorgen. Der Wettbewerb um beste Bildung findet nicht zwischen Bremen und Baden-Württemberg statt, sondern längst zwischen Deutschland und Brasilien oder China. Wirtschaftliche Vernunft, weil wir für unsere Enkel einen handlungsfähigen Staat und die Chance auf Wohlstand garantieren müssen. Deutschland ist stark und chancenreich, aber gegenwärtig in einer Stagnation begriffen. Es wird bürokratisiert und verteilt, was fehlt sind Investitionen und das klare Bekenntnis zur Freiheit. Die Politik kann nicht nur Erntedank feiern, sie muss auch an die Aussaat denken. Deshalb fordern wir ein Moratorium für neue Konsumausgaben des Staates. Stattdessen müssen die Investitionen in digitale Infrastruktur massiv erhöht werden. Um die Wirtschaft zu stärken, sind die Wiedereinführung der degressiven Afa und eine marktwirtschaftliche Energiepolitik ohne steigende Subventionen notwendig. Und es muss vor allem auf die mittelstandsfeindliche Erbschaftsteuerreform verzichtet werden. Die Digitalisierung ist ein Megatrend, der alles verändern wird – in Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie bietet riesige Chancen, die wir ergreifen müssen und neuen Technologien offen gegenübertreten. Aber wir müssen auch die bürgerlichen Freiheitsrechte stärken, um unsere Privatsphäre zu schützen – sowohl vor Unternehmen als auch vor einer staatlichen Totalüberwachung.

Die Terroranschläge von Paris haben eine neue Debatte über Sicherheit und islamistischen Extremismus entfacht. Wie steht die FDP dazu?
Die Antwort auf den Terror sollte mehr Liberalität sein, nicht weniger. Doch es wird mit Sicherheit den Versuch geben, die Ängste der Menschen zu instrumentalisieren, um den Zugriff des Staates weiter auszubauen. Dabei muss jedem klar sein: Absolute Sicherheit gibt es nur in der Einzelzelle. Statt die Freiheit aller pauschal einzuschränken, sind konkrete repressive Maßnahmen gegen Gefährder notwendig. Die Rückkehrer aus Syrien und Irak müssen lückenlos überwacht und strafrechtlich verfolgt werden. Zudem muss die Prävention gegen religiösen Extremismus effektiv gestärkt werden. Dazu gehört auch, den vielen jungen Männern, die auch jetzt als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, echte Integrationsperspektiven zu eröffnen, damit sie nicht in die Fänge gewaltbereiter Salafisten geraten. Zudem muss die Terrormiliz IS bekämpft werden. Dazu sind sowohl militärische als auch diplomatische Anstrengungen notwendig. Um derartigen Belastungen gewachsen zu sein, brauchen wir eine europäische Armee.

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