VIV-Interview mit Frau Dipl.-Pol. Tanja Nackmayr, Geschäftsführerin Bildungspolitik bei unternehmer nrw in Düsseldorf
Stets wird betont, dass Bildung gerade für ein Land wie Deutschland von existenzieller Bedeutung ist. Tatsächlich landen wir bei Leistungsvergleichen regelmäßig allenfalls im Mittelfeld. Braucht es einen Kraftakt in den nächsten Jahren?
Gute Bildung ist enorm wichtig: für gesellschaftliche Teilhabe jedes Einzelnen, für den Wohlstand unserer Gesellschaft und für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes. Daher dürfen wir uns nicht mit Mittelmaß begnügen. Herausforderungen wie etwa Digitalisierung, Integration und demografische Entwicklung werden wir nur meistern, wenn auch die Bildung ihren Beitrag leistet. Dazu bedarf es klarer Zielsetzungen, hoher Qualitätsstandards, konsistenter Handlungsansätze und entsprechende Ressourcen. Bildungspolitik muss die Bildungsqualität und Bildungsergebnisse ganz klar in den Mittelpunkt stellen.
Warum sind andere Bundesländer eigentlich erfolgreicher im Bildungsbereich?
NRW hat Stärken, etwa die vielfältige Hochschullandschaft. Und auch an vielen Schulen wird sehr engagiert gearbeitet. Aber oft stimmen die Rahmenbedingungen hierzulande nicht: So gibt NRW pro Schüler und pro Studierenden im Bundesvergleich am wenigsten aus. Auch wenn Geld nicht alles ist – gute Bildung braucht entsprechende Ressourcen. Mindestens ebenso wichtig sind aber verlässliche Rahmenbedingungen. Für den Schulbereich heißt das, dass Strukturfragen nicht im Vordergrund stehen und Reform-Hin-und-Her nicht unnötig Ressourcen binden darf. Das ist kein Petitum für Stillstand, aber für eine Konzentration auf das Wesentliche – nämlich gute Bildungsarbeit und guten Unterricht.
Wie ist die Situation in NRW bei der Ganztagsbetreuung von Schülern?
Beim Ausbau des Ganztags hat sich in NRW in den letzten Jahren viel getan. Allerdings ist noch Luft nach oben, quantitativ wie qualitativ. Die Angebote gilt es weiter auszubauen, insbesondere an jenen Schulformen, die bisher hinterherhinken wie das Gymnasium und die Realschule. Zudem darf Ganztag nicht einfach nur Betreuung sein. Denn der Ganztag bietet, wenn er sinnvoll gestaltet ist, gute Möglichkeiten für die individuelle und ganzheitliche Förderung der Schüler, etwa durch ergänzende Projekte aus den Bereichen MINT, Musik, Sport oder Kunst. Dafür braucht der Ganztag verbindliche Qualitätsstandards und ausreichend Ressourcen.
Mit der Inklusion hat Politik die Schule alleine gelassen. Richtig?
Schule ist mit dieser Aufgabe an vielen Stellen überfordert, weil nicht die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen wurden. Grundsätzlich ist Inklusion richtig, aber bitte mit Augenmaß. Es muss der Grundsatz gelten „So viel Gemeinsamkeit wie möglich, so viel spezielle Förderung wie nötig“. Gezielte Angebote durch Förderschulen bleiben an vielen Stellen sinnvoll und werden von vielen Eltern auch gewünscht. Zudem muss Schule gut auf die Inklusion vorbereitet werden, insbesondere durch Fortbildungen für die Lehrkräfte, zusätzliches Personal und eine sachgerechte Ausstattung. Dafür müssen Qualitätsstandards definiert werden.
Können Sie die wiederaufgeflammte Diskussion um G8 oder G9 an den Gymnasien verstehen?
Natürlich ist die Kritik vieler Eltern und Schüler ernst zu nehmen. Es gibt nichts, was man nicht besser machen könnte. Und es gibt an den Schulen tatsächlich zahlreiche Herausforderungen, wie etwa Unterrichtsausfall, Digitalisierung, Ganztag, Inklusion, Integration. Kritisch ist aber, dass durch die G8/G9-Debatte diese Fragen aus dem Blickfeld geraten.
Wie ist die Position hierzu von unternehmer nrw?
G8 funktioniert an vielen nordrhein-westfälischen Schulen, die das mit viel Engagement umgesetzt haben. Im Übrigen ist G8 auch in anderen Bundesländern erfolgreich und ganz selbstverständlich. Sachsen und Thüringen etwa schneiden bei Leistungsvergleichen regelmäßig sehr gut ab. Zu beachten ist auch, dass es in NRW durchaus G9-Wege zum Abitur gibt, an den Gesamtschulen und Berufskollegs. Statt jetzt viel Energie in eine Reform-Umkehr zu stecken, sollten daher die tatsächlichen Herausforderungen angegangen werden. Eine Reform-Umkehr würde an den Schulen erhebliche Ressourcen binden, die dann für zentrale Fragen wie Unterrichtsqualität fehlen.
Und was sagen die politischen Parteien in NRW?
Grob gesagt: Die Positionen der Parteien gehen in Richtung eines Wahlrechts für die Schulen, welchen Weg sie gehen wollen (G8, G9 oder beides), auf der einen und in Richtung einer individuellen Schulzeit für den einzelnen Schüler auf der anderen Seite. Beides wäre mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden: Ein Wahlrecht wälzt die Entscheidung auf die Schule ab und überfordert sie an dieser Stelle. Zu erwarten sind intensive Diskussionen und Konflikte vor Ort, die Schule von der eigentlichen Arbeit ablenkt. Eine individuelle Schulzeit bringt für die Schulen erhebliche Unsicherheiten und Fragen der Planbarkeit mit sich, die mehr Engagement für die Organisation als die pädagogische Arbeit erwarten lassen.
Wäre überhaupt ein Umsteuern in den Gymnasien in den nächsten Jahren praktisch durchführbar?
Erfahrungen etwa mit der Inklusion zeigen, dass Änderungen Zeit brauchen und gut vorbereitet werden müssen. Eine kurzfristige Umsetzung wäre fahrlässig. Denn zu glauben, man würde „einfach“ ein Jahr ergänzen, ist schlichtweg falsch. Es müssen beispielsweise neue Lehrpläne erarbeitet werden. Auch hätten Änderungen am Gymnasium Auswirkungen auf die anderen Schulformen. Eine „einfache“ Rückkehr zu G9 gibt es also nicht; umso wichtiger ist eine überlegte Entscheidung an dieser Stelle unter Berücksichtigung der tatsächlichen Problemlagen an den Schulen.
Die Berufsschulen sind die Stiefkinder der Schulpolitik, richtig?
Die Berufsschulen stehen, auch in öffentlichen Debatten, oft nicht im Fokus. Dabei sind sie enorm wichtig, gerade für die Wirtschaft als Partner in der dualen Ausbildung. Und Berufsschulen stehen vor großen Herausforderungen, etwa der Lehrermangel in technischen Fächern oder der Modernisierungsbedarf im Hinblick auf Digitalisierung. Zu begrüßen ist, dass die Landesregierung gemeinsam mit Hochschulen neue Modelle für die Ausbildung von Berufskollegs-Lehrkräften in technischen Fächern auf den Weg gebracht hat. Insgesamt muss das Berufskolleg aber stärker in den Fokus rücken und beispielsweise an den Investitionsprogrammen, die Bund und Land aktuell starten, angemessen partizipieren.
Alle Abiturienten wollen studieren, aber wir verzeichnen immer mehr Studienabbrecher. In MINT-Fächern sind es an den Unis zum Teil bis zu 40 oder 50 Prozent. Wie kann man das korrigieren?
Da muss zum einen präventiv angesetzt werden: Die Schule muss das vermitteln, was junge Menschen für ein Studium brauchen. Eine Stärkung der MINT-Fächer beispielsweise wäre für die technisch-naturwissenschaftlichen Studiengänge enorm wichtig. Hinzu kommen muss eine fundierte Studien- und Berufsorientierung, damit junge Menschen ihren weiteren Bildungsweg gezielt auf Basis ihrer Stärken und Interessen und der Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt auswählen. Dabei muss auch bei Abiturienten gleichermaßen die duale Ausbildung im Blick sein. Sie bietet moderne Berufsfelder mit hervorragenden beruflichen Perspektiven.
Zum anderen muss auch während des Studiums gezielt daran gearbeitet werden, dass das Studium erfolgreich abgeschlossen wird. Dazu gehört Beratung und Begleitung, wo das nötig ist. Ganz wichtig ist auch ein größerer Praxisbezug im Studium. Das ist gut, weil man so sieht, warum man lernt. Und es ist gut, weil dann der Übergang in Beschäftigung nach dem Studium in der Regel besser gelingt.
Ansprechpartner: Hans-Harald Sowka
Telefon: 02421/4042-0
Telefax: 02421/4042-25
E-Mail: info@vivdueren.de