VIV-Interview mit Raphael Gielgen: „Die kreative Erneuerung Deutschlands betrifft alle: Konzerne und mittelständische Unternehmen“

VIV-Interview mit Raphael Gielgen: „Die kreative Erneuerung Deutschlands betrifft alle: Konzerne und mittelständische Unternehmen“

Wie definieren Sie den Begriff Future Work? 

Raphael Gielgen: Für mich ist das ein sehr weit gefasster Begriff: Wie verändert, wie erneuert sich das Wesen der Arbeit, in meinem Fall vor allem der Wissensarbeit?

Sie sind gelernter Schreiner und gelernter Kaufmann. Wieso ist das Thema Zukunft zu Ihrem Thema geworden? 

Gielgen: Na ja, zum einen hat mich das Thema Zukunft schon immer sehr interessiert. Und wenn man, so wie ich früher, für Menschen ihren Arbeitsort einrichtet, beschäftigt man sich automatisch auch mit der Zukunft der Arbeit. Das gehört zusammen. Ich habe sehr spannende Unternehmen kennengelernt und beispielsweise im Jahr 2004 das BMW-Werk in Leipzig eingerichtet und später das Apple Head Quarter in München und ein BMW-Werk in China. Da ist man unwillkürlich gezwungen, sich mit modernen, zukunftsweisenden Arbeitsfomen auseinanderzusetzen.

Heute sind Sie aber ja nicht jemand, der sich nur hin und wieder Gedanken über die Zukunft macht, Future Work ist vielmehr ihr Tätigkeitsschwerpunkt.

Gielgen: Ja, das stimmt. Ich bin irgendwann in die Geschäftsentwicklung gewechselt und beschäftige mich da nicht mehr nur mit recht kurzen Projekten von zwölf bis 18 Monaten, sondern mit einem viel längeren Zeitraum. Und dabei geht es dann natürlich auch um Fragen wie „Wie entwickelt sich der Markt?“ und „Welche Branchen prosperieren?“ Ich habe begonnen, viel zu lernen, mich immer weiterzubilden. Und ich habe viele neue Erkenntnisse gewonnen. Ich habe vor Jahren die Gründer von Facebook, Skype und Google bei einer Konferenz getroffen. Damals habe ich nicht wirklich viel von dem, was die erzählt haben, verstanden. Aber mir war sofort klar, dass die Leute von einer ganz neuen Welt reden. Und diese Welt wollte ich für mich entdecken und begreifen.

Was macht die ständige Auseinandersetzung mit der Zukunft mit einem Menschen? Sind Sie den anderen immer ein Stück voraus? 

Gielgen: Ich denke, ich treffe Entscheidungen anders. Ich würde bei mir zu Hause eher eine Zisterne als einen Pool bauen. Ich würde das Dach einer Scheune bei seiner Erneuerung auf jeden Fall mit Solarzellen bestücken. Aber natürlich gibt es auch Fragen, die mich wirklich sehr beschäftigen: Was bedeutet das für unsere Wirtschaft, dass unser Geld gefühlt nichts mehr wert ist? Was passiert mit unserem Planeten?

Was hat sich seit dem BMW-Gebäude in Leipzig vor 18 Jahren verändert?   

Gielgen: Ehrlich gesagt, waren die damals schon sehr weit: Alle Mitarbeiter des Werks sind durch das gleiche Tor gegangen, alle haben in den gleichen Kantinen gegessen. Alle haben im gleichen, offenen Raum gesessen, der terrassenförmig aufgebaut war. Niemand hatte sein eigenes Büro. Damit auch diese Leute immer sehen konnten, was in der Produktion passiert, gab es ein großes Förderband quer durch diesen Raum.

Grundsätzlich hat sich Arbeiten ja trotzdem schon sehr verändert? 

Gielgen: Ja, natürlich. 80 Prozent aller Arbeitsplätze können remote, also auf Distanz, erfolgen. Bei Online-Plattformen für Stellenangebote ist die Zahl derer, bei denen Homeoffice möglich ist, um 300 Prozent gestiegen. Hinzu kommt, dass man aufgrund moderner Technologien heute gleichzeitig mit anderen zusammen an mehreren Projekten arbeiten kann. Das ist überhaupt kein Problem. Was ich sagen möchte: Das Büro hat sein Monopol auf Arbeit verloren.

Ist die Arbeitswelt anspruchsvoller geworden? 

Gielgen: Auf jeden Fall. Das Leben war früher viel langsamer. Wenn ich nach der Arbeit nach Hause gefahren bin, hat die Arbeit sich schlafen gelegt. Das ist heute nicht mehr so. Es geht immer weiter.

Wir stehen vor großen Veränderungen. Wie können wir die bewältigen?

Gielgen: Ja, wir befinden uns in einem Jahrzehnt der Transformation. Ich vergleiche diese Transformation von ihrer Wichtigkeit immer mit der Transformation des Ruhrgebietes, nur dass die Menschen dort 60 Jahre Zeit hatten. So viel Zeit haben wir aber nicht. Wir müssen schneller sein.

Was genau meinen Sie mit Transformation? 

Gielgen: Wir sprechen von der kreativen Erneuerung Deutschlands. Und das ist etwas, das alle betrifft: große Konzerne, mittelständische Unternehmen und Gründer. Dabei geht es, ich habe es schon einmal kurz angesprochen, um neue Technologien, neue Regulierungen wie das Lieferkettengesetz oder den europäischen Green Deal, und Transformation. All das findet in besonderem Maße in Unternehmen statt. Ich will es noch einmal ganz konkret machen: Mein Großvater war Apparatebauer, die Transformation, die er erlebt hat, war der Wechsel vom Nieten zum Schweißen. Bei meinem Vater ging es um den Übergang der Papier- zur Folienherstellung. Das, was die Menschen heute bewältigen müssen, ist davon ein Vielfaches.

Wie kann diese Veränderung gelingen und wie schaffen Unternehmer es, ihre Mitarbeiter mitzunehmen?

Gielgen: Veränderung gelingt durch Transparenz. Alle müssen den gleichen Wissensstand haben, verstehen, was passiert. Dazu ist es unabdingbar, dass Klartext geredet wird. Natürlich gibt es dann sicherlich immer noch Mitarbeiter, die den Weg nicht mitgehen möchten. Das ist vor dem Hintergrund des riesigen Fachkräftemangels und demografischen Wandels ein sehr großes Problem.

Sind Industriebetriebe noch einmal mehr betroffen – schon allein aufgrund der Herausforderungen, die der Klimaschutz mit sich bringt? 

Gielgen: Unternehmen waren in unserem Land schon immer ein starker Motor. Dazu gehört auch unternehmerische Fürsorge, die Vertrauen, Loyalität und Verbundenheit schafft. Und damit gelingt auch die Transformation. Aber zum Klimaschutz: Ich bin sicher, dass unsere Wirtschaft die Dekarbonisierung schaffen wird. Deutschland steht weltweit an dritter Stelle, was die Produktion von erneuerbaren Energien angeht. Ich lerne unheimlich viele Menschen kennen, die gestalten, die gute Ideen haben, zum Beispiel, wie man Wasserstoff mit einem Öl binden kann, um ihn dann in herkömmlichen Tankwagen oder Leitungen zu transportieren. Das lässt mich immer noch sehr zuversichtlich nach vorne schauen.

Hat die Corona-Pandemie uns der Zukunft der Arbeit ein Stück schneller näher gebracht? 

Gielgen: Covid-19 hat Dinge beschleunigt. Das habe ich an mir selbst beobachtet: Von einem Tag auf den anderen konnte ich nicht mehr reisen, keine Vorträge mehr halten und war in Kurzarbeit. Das hat mir Angst gemacht. Was ich sagen will: Die Pandemie hat eine ganz andere Akzeptanz für Veränderung geschaffen. Alle haben akzeptiert, dass Veränderungen notwendig sind. Alle haben mitgemacht.

Und was bedeutet das für die Zukunft? 

Gielgen: Die Phase des Abwartens, Ertragens und Annehmens ist mittlerweile vorbei. Wir wissen jetzt, wie die Arbeitswelt vor der Pandemie war und wie sie während der Pandemie funktioniert hat. Wir haben eine Auswahl und können nun das Beste aus zwei Welten kombinieren.

Können Sie trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen eigentlich noch ruhig schlafen? 

Gielgen: Auf jeden Fall. Ich blicke sehr optimistisch in die Zukunft. Corona ist in der Menschheitsgeschichte nur ein Augenblick. Der Mensch hat es immer geschafft, die vor ihm liegenden Herausforderungen zu lösen. Das wird ihm auch diesmal wieder gelingen.

 

Der gebürtige Langerweher Raphael Gielgen ist 52 Jahre alt und lebt mittlerweile in Bayern. Nach einer Schreinerlehre und einer kaufmännischen Ausbildung arbeitet er seit mehr als sieben Jahren bei Vitra, einem international agierenden Schweizer Familienunternehmen. In Zeiten ohne Pandemie ist er rund 200 Tage im Jahr auf der ganzen Welt unterwegs – immer auf der Suche nach bisher Ungesehenem, auf der Suche nach der Arbeitswelt von morgen, auf der Suche nach der Zukunft.

Mit Raphael Gielgen startet die neue Veranstaltungsreihe „Future Work“ aus dem Haus der Industrie. Gielgen spricht am Donnerstag, 3. März, 17.30 Uhr, zum Thema „Müssen wir Angst vor der Zukunft haben – Chancen und Herausforderungen von Future Work“. Im Anschluss an seinen Vortrag besteht die Möglichkeit im Rahmen einer Diskussionsrunde mit dem Trendscout ins Gespräch zu kommen. Die Veranstaltung findet im Eventspace Düren in der Pleußmühle, August-KlotzStraße 21, statt. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung unter www.veranstaltungen.viv-dueren.de ist erforderlich. Nähere Informationen zu der Reihe „Future Work“ gibt es ebenfalls unter dieser Adresse oder direkt bei Sandra Kinkel im Haus der Industrie. Die Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, Bildung und Kommunikation ist telefonisch unter 02421/404216 und 0172/8244427 oder per E-Mail an s.kinkel@vivdueren.de zu erreichen.